Wie ich mein Herz an Venezuela verloren habe
Oft sind es nicht die großen Sehenswürdigkeiten, sondern die kleinen Erlebnisse, die eine Reise unvergesslich machen. Manche sind sehr lustig, andere sentimental. Wenn ich gefragt werde, warum ich reise, erzähle ich oft diese kleine Geschichte aus dem Jahre 1996. Sie steht stellvertretend für die Vielzahl an Dingen, die ich auf meinen Reisen erlebt habe:
Puerto de la Cruz, Venezuela, September 1996. Es war einer dieser feuchten, stickig-heißen Mittage an der venezolanischen Karibikküste. Es war Freitag, ich war gerade mit dem Bus angekommen und alle Hotels waren wegen des herannahenden Wochenendes fast komplett mit einheimischen Wochenendausflüglern ausgebucht. So benötigte ich zahlreiche Anläufe bis ich schließlich nassgeschwitzt ein schäbiges und überteuertes Zimmer beziehen konnte.
Ich hatte mich richtig geärgert und der Ärger war noch nicht ganz verflogen, als ich am Abend das italienische Restaurant an der Strandpromenade betrat. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich an diesem schwülen Abend etwas zutragen würde, das ich nicht vergessen werde, solange ich lebe.
Ich war so in Gedanken, dass ich sie zunächst nicht bemerkte. Erst als sie am Nachbartisch stand, fiel sie mir auf. Ein kleines Mädchen mit schwarzen, zerzausten Haaren in ärmlicher und schmutziger Kleidung. In den Händen hielt sie eine Art Setzkasten mit vielen Fächern, in denen sich allerlei Krimskrams befand, den sie zu verkaufen versuchte. Ich bekam Gänsehaut, als mein Blick in die Mitte des Kastens fiel. Hier befand sich ein größeres Fach, in das das kleine Mädchen seine Puppe gelegt hatte.
Mit großen traurigen Augen schaute das Mädchen meinen Tischnachbarn an, doch der Mann schüttelte den Kopf. Während sich diese Szene an zwei weiteren Tischen wiederholte, tat es mir leid, dass ich sie nicht sofort bemerkt hatte, als sie das Restaurant betrat.
Und mir wurde bewusst wie unwichtig und banal meine Probleme an diesem Tag gegen die des kleinen Straßenmädchens waren.
Ich kramte noch nach etwas Geld in meinem Geldbörse, aber sie war schon mit gesenktem Kopf hinaus auf die Straße geschlichen.
Plötzlich bemerkte ich, dass die Kellner sich durch Blickkontakt verständigten. Einer der Kellner verschwand nach draußen und kam nach kurzer Zeit wieder, an der Hand das kleine Mädchen. Er führte sie an einen Tisch und half ihr, sich auf den Stuhl zu setzen. Ein anderer Kellner brachte ein Getränk und kurz danach ein dampfendes Gericht.
Wie eine Prinzessin saß sie da und speiste.
Lächelnd schaute sie in die Runde, als ob es ihr Glückstag wäre. Erst als sie den letzten Rest Soße mit einem Stück Brot aufgetunkt hatte, hielt sie inne und schaute dankbar zu den Kellnern hinüber. Sie blieb noch eine Weile sitzen, lächelte noch einmal den Kellnern zu und verschwand wieder hinaus in die Dunkelheit.
Ich frage mich heute oft, was wohl aus dem Mädchen geworden ist. Und oft denke ich auch an die Kellner des kleinen italienischen Restaurants, die an diesem Abend ein Lächeln in das Gesicht des traurigen Mädchens gezaubert haben.